Sind depressive Menschen egoistisch? Klärung eines Vorurteils
- Christian Asperger
- 3. Feb.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 26. Feb.
Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen weltweit. Trotzdem bestehen nach wie vor zahlreiche Vorurteile und Missverständnisse über die Krankheit und die Betroffenen. Eines dieser hartnäckigen Vorurteile ist die Annahme, depressive Menschen seien egoistisch.
Diese Sichtweise entsteht oft dadurch, dass depressive Personen sich zurückziehen, sich kaum noch um ihre sozialen Kontakte kümmern und Schwierigkeiten haben, die Bedürfnisse anderer zu erkennen oder darauf einzugehen.
Doch ist dieses Verhalten wirklich als Egoismus zu deuten? Oder liegt dem eine tiefere, krankheitsbedingte Ursache zugrunde? Als systemischer Psychotherapeut möchte ich dieses Missverständnis aufklären, indem ich die Perspektive der Betroffenen sowie deren Umfeld betrachte und anhand von Beispielen aus der Praxis erkläre, warum depressive Menschen nicht egoistisch sind.

Was Sie hier erfahren können
In diesem Artikel klären wir das weit verbreitete Vorurteil, dass depressive Menschen egoistisch seien.
Sie erfahren, warum sich depressive Menschen zurückziehen, welche systemischen Dynamiken dabei eine Rolle spielen und warum dieses Verhalten nicht mit Egoismus verwechselt werden sollte.
Zudem geben wir Ihnen praktische Handlungsempfehlungen für Betroffene und deren Angehörige, um besser mit der Situation umzugehen.
Hilfe bei Depressionen: Wohin können sich Betroffene und Angehörige wenden?
Inhaltsverzeichnis
1. Was ist Depression? Ein Blick auf die Symptome
Um zu verstehen, warum depressive Menschen manchmal den Eindruck erwecken, egoistisch zu sein, ist es wichtig, die Krankheit selbst genauer zu betrachten.
Depression ist eine ernsthafte psychische Erkrankung, die sich in vielen verschiedenen Symptomen äußern kann. Dazu gehören unter anderem:
Tiefe, anhaltende Traurigkeit oder Leere
Verlust von Freude und Interesse an vorher geliebten Aktivitäten
Erhöhte Müdigkeit und Antriebslosigkeit
Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen oder sich zu konzentrieren
Sozialer Rückzug und Kontaktvermeidung
Schuldgefühle und Selbstzweifel
Manchmal auch Reizbarkeit oder Frustration
Viele dieser Symptome haben direkte Auswirkungen auf das soziale Verhalten. Besonders der soziale Rückzug und die Antriebslosigkeit können von Freunden und Familie als Desinteresse oder gar Egoismus missverstanden werden. Doch hinter diesem Verhalten steckt keine bewusste Entscheidung gegen das soziale Umfeld, sondern eine tiefe Erschöpfung und Überforderung durch die Krankheit.

2. Warum entsteht das Vorurteil des Egoismus?
Die Annahme, dass depressive Menschen egoistisch seien, entsteht häufig aus der Perspektive der Angehörigen oder Freunde. Sie erleben, dass die betroffene Person nicht mehr so viel Interesse an gemeinsamen Aktivitäten zeigt, Verabredungen absagt oder sich kaum noch meldet.
Für Außenstehende kann das frustrierend sein und den Eindruck vermitteln, als sei die betroffene Person nur mit sich selbst beschäftigt und würde nicht mehr auf andere eingehen.
Praxisbeispiel:
Anna, eine 35-jährige Klientin, beschreibt in einer Sitzung, wie ihre beste Freundin ihr vorwirft, sie sei "nur noch mit sich selbst beschäftigt" und "habe keine Zeit mehr für andere". Anna hat in den letzten Monaten aufgrund ihrer Depression kaum noch Kraft, sich zu melden oder sich zu treffen. Sie ist nicht absichtlich distanziert, sondern fühlt sich von ihren eigenen Emotionen und der Erschöpfung überwältigt. In der Therapie erarbeiten wir gemeinsam, wie sie ihrer Freundin erklären kann, was mit ihr los ist und dass ihr Rückzug nichts mit mangelnder Wertschätzung zu tun hat.

3. Systemische Perspektive: Depression im sozialen Kontext
In der systemischen Therapie betrachten wir Depression nicht als isoliertes Problem einer Einzelperson, sondern als Teil eines größeren Systems. Das bedeutet, dass depressive Symptome oft in Wechselwirkung mit den sozialen Beziehungen stehen. In vielen Fällen entsteht ein Teufelskreis:
Die betroffene Person zieht sich zurück, weil sie keine Energie für soziale Interaktionen hat.
Das Umfeld empfindet diesen Rückzug als Zurückweisung und reagiert verletzt oder verärgert.
Die depressive Person fühlt sich durch die Reaktion noch schuldiger und zieht sich noch weiter zurück.
Praxisbeispiel:
Markus, 42 Jahre alt, leidet seit einem Jahr an einer schweren Depression. Seine Frau fühlt sich zunehmend allein gelassen und sagt ihm oft: "Du kümmerst dich nur noch um deine Probleme und überlässt mir den Alltag." Markus fühlt sich dadurch noch schuldiger und zieht sich noch mehr zurück, weil er sich als Belastung empfindet. In der Therapie arbeiten wir daran, diese Dynamik sichtbar zu machen und seiner Frau zu erklären, dass seine Passivität nicht aus Egoismus entsteht, sondern aus einer tiefen inneren Erschöpfung.

4. Warum depressive Menschen nicht egoistisch sind
Depression hat oft den Effekt, dass Betroffene ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle nicht mehr klar wahrnehmen können. Statt egoistisch zu sein, fühlen sich viele Depressive im Gegenteil oft schuldig oder wertlos. Sie nehmen sich selbst als Belastung wahr und meiden soziale Interaktionen, um anderen nicht zur Last zu fallen. Das hat nichts mit Selbstsucht zu tun, sondern ist ein Ausdruck von tiefem inneren Leiden.
Wichtige Aspekte, die gegen das Egoismus-Vorurteil sprechen:
Depressive Menschen leiden unter Selbstzweifeln und Schuldgefühlen, was das Gegenteil von Egoismus ist.
Der soziale Rückzug ist eine Schutzreaktion, um sich vor Überforderung zu bewahren.
Antriebslosigkeit ist ein Krankheitssymptom, keine bewusste Entscheidung.
Viele Betroffene kämpfen mit enormem inneren Druck, der ihre Wahrnehmung der Umwelt verzerrt.
Depression führt oft zu einem Gefühl der Wertlosigkeit, wodurch sich Betroffene eher als Last empfinden als als Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Viele depressive Menschen haben Schwierigkeiten, Hilfe anzunehmen, weil sie sich nicht für wertvoll genug halten, was egoistische Menschen in der Regel nicht tun.
Selbstaufgabe statt Selbstfokus: Viele Depressive ignorieren ihre eigenen Bedürfnisse, anstatt sich übermäßig um sich selbst zu drehen.
5. Handlungsempfehlungen für Betroffene und Angehörige
Für Betroffene:
Offene Kommunikation: Erklären Sie Ihren nächsten Bezugspersonen, dass Ihr Rückzug kein Zeichen mangelnder Wertschätzung ist, sondern ein Symptom Ihrer Erkrankung.
Professionelle Hilfe suchen: Therapie und Beratung können helfen, depressive Muster zu verstehen und neue Strategien zu entwickeln.
Selbstmitgefühl üben: Machen Sie sich bewusst, dass Depressionen eine Krankheit sind und dass Sie nicht absichtlich egoistisch handeln.
Struktur in den Alltag bringen: Kleine Routinen und klare Tagespläne können helfen, den Alltag trotz Depression besser zu bewältigen.
Kleine Schritte setzen: Setzen Sie sich realistische Ziele, um Überforderung zu vermeiden.
Für Angehörige:
Empathie statt Vorwurf: Erkennen Sie an, dass depressive Menschen sich oft selbst als Belastung empfinden und nicht absichtlich distanziert sind.
Unterstützung anbieten: Fragen Sie, wie Sie helfen können, ohne Druck auszuüben.
Eigene Grenzen wahren: Auch Sie dürfen sich abgrenzen und auf Ihr eigenes Wohlbefinden achten.
Informieren Sie sich: Wissen über Depression hilft, die Situation besser zu verstehen und Missverständnisse zu vermeiden.
Ermutigung statt Druck: Depressive Menschen brauchen Verständnis, aber keine überfordernden Erwartungen.

6. Mein Therapie-Ansatz kann helfen

In meiner Rolle als Psychotherapeut integriere ich meine langjährige Erfahrung aus meiner Praxis als Psychotherapeut sowie als Führungskraft in Konzernen mit einer soliden Ausbildung in systemischer Psychotherapie und Coaching. Mein Ansatz basiert auf dem Verständnis der Menschen im Kontext ihrer sozialen Beziehungen und der Konzentration auf das "Wie" gegenwärtiger Situationen. Ich betrachte Klienten als Experten ihrer eigenen Fälle und vermeide es, Themen zu vertiefen, die sie nicht aktiv einbringen.
Neben meiner beruflichen Tätigkeit engagiere ich mich in kontinuierlichen Weiterbildungen und genieße meine Freizeit mit meiner Familie und Outdoor-Aktivitäten. Meine Qualifikationen umfassen systemische Psychotherapie, Paartherapie, hundegestützte Therapie, EMDR, systemisches Coaching und ein Studium der Betriebswirtschaft.
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